In letzter Zeit häufen sich in der etablierten deutschen Oldtimer-Presse die Versuche, technisch unbedeutende und anspruchslos gestaltete, in großen Mengen produzierte Gebrauchtwagen zu Klassikern der Zukunft hoch zuschreiben. Hinzu kommt die gegenwärtige Hysterie um durchaus klassische, aber massenhaft gebaute Wagen der 1960er und -70er Jahre wie z.B. den Golf I oder diverse Mercedes-Modelle.
Zum Glück steht diesen Versuchen, eine neue Klientel zu erreichen, in Teilen der Klassikerszene ein erfreulicher Trend zu vermehrter Rückwärtsorientierung gegenüber. So verstärkt die zunehmende Dominanz von Laien kaum noch begreif- und schwer reparierbarer sowie materialmäßig wenig dauerhafter Automobile – sogenannter „Youngtimer“ – das Interesse an wirklich historischen und erhaltenswerten Fahrzeugen.
Für den Liebhaber beherrschbarer Technik, langlebiger Materialien und archaischer Anmutung ist der zahlenmäßig geringe Bestand an Vorkriegsfahrzeugen deutlich interessanter. Nur hier sind die echten Raritäten zu finden, die Kennerschaft und Leidenschaft gleichermaßen fordern. Und damit sind keineswegs nur Vehikel der 1920er und 30er Jahre gemeint, die meist bereits in industriellem Maßstab gefertigt wurden.
Allmählich wieder entdeckt wird vielmehr die wesentlich faszinierendere Welt der inzwischen deutlich über hundertjährigen Manufaktur-Automobile aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit ihrer heute kaum noch vorstellbaren Vielfalt an Marken und Modellen, aber auch ästhetisch wie technisch eigenwilligen Lösungen.
In Deutschland sind einige Initiativen besonders hervorzuheben, die diese hochinteressanten und raren Vertreter der automobilen Frühzeit wieder ins Rampenlicht rücken:
- Am Niederrhein findet die Kronprinz Wilhelm Rasanz statt, an der vornehmlich Autos bis 1918 teilnehmen
- In Dresden hat der Erfolg der 2014 erstmals abgehaltenen Saxonia 100 die Hoffnungen auf weitere Treffen hundertjähriger Automobile und Motorräder in Aktion geweckt.
- Am Bodensee wird im 2-Jahres-Turnus die Lacus Potamicus gefahren
- In Landsberg findet die Herkomer Konkurenz für Fahrzeuge bis 1930 statt. Hier ein Video von der Veranstaltung im Jahr 2018
- Auf Schloß Wackerbarth bei Dresden beschränkt sich der Concours de Elegance auf Fahrzeuge bis Baujahr 1945. Hier ein Video dazu.
Wie so oft, wenn es um Veteranen geht, sind unsere britischen Nachbarn in dieser Hinsicht schon etwas länger tätig, wie schon der „London – Brighton – Run“ zeigt, wo die Zulassungsgrenze beim 31.12.1904 liegt und weit über 400 Vehikel teilnehmen.
Von einer bloß musealen Präsentation wirklich historischer Autos und Motorräder, wie sie bei uns bis in die 1980er Jahre vorherrschte, haben die Engländer zu keiner Zeit etwas gehalten. Das zeigt schon die nie unterbrochene Tradition der Hillclimbs, bei denen Automobile der Vorkriegszeit lustvoll durchs Gelände geprügelt wurden und werden.
Dergleichen Schlammschlachten, für die sich auf der Insel übrigens auch Frauen und junge Leute in Scharen begeistern, erscheinen im Heimatland von Hochdruckreiniger und Laubblasgerät nach wie vor schwer vorstellbar, schon gar nicht mit überrestaurierten historischen Gefährten.
Quelle: Oldtimer – Klassiker- und Motormagazin Nr. 49