Wie es sich für den Sportler der Belle Époque gehört, begann Giosuè Giuppone (geb. in I – Agnona, 29.9.1878 / gest. in F – Wirwignes, 16.9.1910)
seine sportliche Karriere im Radsport.
Nach einigen Jahren als Sprinter wechselte er zunächst zu Mitteldistanzrennen und fiel durch seine Qualitäten auf langen Distanzen auf. Er wurde der stärkste Mittelstrecken-Radrennfahrer Italiens, wobei er seine Rekorde vorwiegend auf Peugeot-Rädern erzielte. Bei seinen Radsport-Erfolgen ragen die Siege bei den italienischen Langstreckenmeisterschaften 1903 und 1904 sowie die Verbesserung des italienischen Stundenrekords 1903 und 1904 heraus.
Auf dem Höhepunkt seines Erfolges wandte er sich vom Radfahren ab, um sich dem neuen motorisierten Zweirad, dem Motorrad, zuzuwenden.
Er arbeitete zu dieser Zeit als Mechaniker für die Brüder Giovanni und Cesare Picena aus Turin, die u.a. Fahrrad- und Motorradhändler fürPeugeot waren. Niemand konnte die Qualitäten der französischen Motorräder bei Wettbewerben besser unter Beweis stellen als Giuppone und so begann er, als echter Motorradfahrer bei Straßen- und Velodrom-Rennen anzutreten.
Nach einigen sehr erfolgreichen Jahren in Italien wurde er direkt von Peugeot angestellt und zog nach Frankreich. Dank der Wagemut und Rücksichtslosigkeit, mit der er jedes Rennen in Angriff nahm, dauerte es nicht lange, bis er zu einem Favoriten des Pariser Publikums wurde, das am Wochenende die Velodrome füllte.
Neben der Rundstrecke nahm Giuppone auch an den prestigeträchtigsten internationalen Straßenrennen teil und nahm an klassischen Veranstaltungen wie dem Circuit des Ardennes, der Tour de France und dem internationalen Cup de Moto teil. Peugeot war bei Berg- und reinen Geschwindigkeitsrennen absolut führend, so dass er viele Siege bei den berühmtesten Treffen der damaligen Zeit errang – z.B. in Dourdan, Gaillon, Mont Ventoux, Château-Thierry und Ostende.
Giuppones Hunger nach Rennen war kaum zu stillen; er startete fast jede Woche in Italien, Frankreich oder Belgien. Zusammen mit seinem Teamkollegen Henri Cissac machte er die Peugeot-Mannschaft fast unschlagbar und wurde so in der weltweit bekannt.
Die wichtigsten Rennen seiner Motorradkarriere sollten nicht vergessen werden:
- 1904: Siege bei den italienischen Geschwindigkeits- und Ausdauermeisterschaften
- 1904: Weltrekord für leichte Motorräder
- 1905: Weltrekord für schwere Motorräder
- 1905: Sieg beim Bergrennen auf dem Mont Ventoux
- 1906: den zweiten Platz beim internationalen Cup de Moto
- 1905 + 1906: je zweiter Platz bei der Tour de France Moto
- 1906 + 1907: Jeweils Sieg auf dem Circuit des Ardennes
- 1909: Teilnahme an der TouristTrophy auf der Isle of Man.
Ab 1906/07 steigt Giosuè Giuppone auf das Automobil um und befasst sich nur noch gelegentlich mit Motorradrennen. Eine neue Etappe in seiner sportlichen Karriere, die bedauerlicher Weise nur 4 Jahre (1906 – 1910) dauerte, begann.
Er fuhr ausschließlich mit Lion-Peugeot; dieser Zweig der Peugeotgruppe begann im Jahr 1906 mit der Produktion von Kleinwagen für ein breites Publikum. Robert Peugeot vertraute Giuppone die Führung seines Rennsport-Teams an. Lion-Peugeot bestritt Rennen in der unteren Kategorie (Cup des Voiturettes), die für Fahrzeuge mit einem Gewicht unter 450 kg reserviert war.
Zwischen 1906 und 1907 war hier die Marke Sizaire-Naudin mit den Konstrukteuren Georges Sizaire und Louis Naudin dominierend. Sie waren wie Giuppone – auch gegen sich selbst – rücksichtslose Fahrer und in diesen zwei Jahren unbesiegbar. Lion-Peugeot konkurrierte mit bescheideneren Modellen, die zunächst vom Typ VA, später dann vom Typ VC abgeleitet wurden. Ab 1908 entwickelte man immer konkurrenzfähigere Modelle, mit denen Lion Peugeot (zusammen mit der Marke Delage) begann, die Vormachtstellung von Sizaire-Naudin zu untergraben.
In den folgenden Jahren wurde das Lion-Peugeot-Team in dieser Klasse immer stärker und mit Giuppone wurden die weiteren Peugeot-Fahrer Georges Boillot und Jules Goux zur Marke, die es zu schlagen galt.
Giuppone nahm an allen klassischen Rennen dieser Zeit teil und eroberte in jedem von ihnen die oberste Stufe des Podiums. Seine wichtigsten Erfolge waren:
- 1907 + 1908: Sieg beim Rennen der Turiner Automobilausstellung
- 1908: Sieg bei der Targa Florio del Voitturette auf Sizilien
- 1908: Sieg bei der Katalonien-Rundfahrt
- 1909: Coupe de l’Auto – sein prestigeträchtigster Sieg
- 1909: Sieg bei der Coppa del Voitturette in Ostende
- 1909: 2. Platz bei der Targa Florio del Voiturette (hinter Georges Boillot)
- 1910: 2. Platz bei der Targa Florio del Voitturette auf Sizilien (hinter Georges Boillot)
- 1910: 2. Platz bei der Katalonien-Rundfahrt (hinter Jules Goux)
- 1910: Siege bei den klassischen Speed-Meetings in Ostende, Boulogne und der Provence
Am Freitag, dem 16. September 1910, einige Tage vor dem Coupe de l’Auto, testete Giosuè Giuppone gegen 18 Uhr auf der Rennstrecke von Boulogne das neue Vierzylindermodell seines Lion-Peugeot. Die Tests vor dem Rennen in keiner Weise reglementiert, und es stand den Teilnehmern frei, ihre Autos auf normalen Straßen abzustimmen. Das machte das Training viel gefährlicher als das Rennen selbst, und die Fahrer mussten extrem vorsichtig sein, da die öffentlichen Strassen für den normalen Verkehr durch Passanten, Pferdefuhrwerke, Nutzvieh, Radfahrer und gelegentlich sogar durch Automobile genutzt wurden.
Als Giuppone etwa 200 Meter vor dem Ortseingang des Dorfes Wirwignes in Richtung Desveres fuhr, ah er, dass zwei Radfahrer in die entgegen gesetzte Richtung fuhren und bremste ab. Die Radler fuhren korrekterweise auf der rechten Strassenseite, so dass der italienische Fahrer wieder beschleunigte. Als er etwa 20 Meter vor den Radfahrern war, bog einer der beiden plötzlich links ab.
Um die Kollision zu vermeiden, bremste Giuppone stark ab und wich abrupt aus; dabei kollidierte er mit einer Strassenbegrenzung und überschlug sich. Der Mechaniker Albert Ledunois wurde auf die Strasse geschleudert und kam mit leichten Prellungen und einer Wunde an der Nase davon. Giuppone flog zehn Meter weit, bevor er auf der Strasse aufschlug und sich den Schädel brach. Ein herbeigerufener Arzt konnte nichts mehr für ihn tun und Giuppone starb noch am Unfallort, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen.
Der den Unfall verursachende Radfahrer, Paul de Sainte-Maréville, stürzte, erlitt aber keine schwerwiegenden Verletzungen. Er und der Mechaniker Ledunois wurden bereits einige Stunden später aus dem Krankenhaus entlassen.
Paul de Sainte-Maréville wurde als direkt für den Unfall verantwortlich verurteilt. Er war damals 24 Jahre alt und bereits mehrfach wegen Diebstahls, Betrugs und Raubes verurteilt – unter anderem wurde er 1906 aus Belgien ausgewiesen. Ein Jahr nach dem Vorfall, 1911, floh er aus dem Gefängnis in Boulogne nach England.
Der Leichnam Giuppones wurde nach Boulogne in das Hotel du Commerce gebracht, wo Peugeot seinen Sitz für das Rennen eingerichtet hatte. Dort bahrte man ihn auf. Am folgenden Tag wurde der Sarg mit Dutzenden von Kränzen bedeckt, darunter die von Georges Boillot, Jules Goux, Peugeot, Hispano-Suiza, dem Automobile-Club du Nord, der zeitschrift L’Auto und vielen Konkurrenten. Am Tag des Rennens, dem 18. September, trafen zwei Brüder von Giuppone aus Italien ein, und der Sarg wurde im Beisein der Familie geschlossen.
Mehr als 3000 Personen begleiteten den Sarg zum Bahnhof von Boulogne für die Überführung der Leiche nach Italien. An der Spitze der Prozession standen die beiden Brüder von Giuppone, gefolgt von Boillot und Goux, dann zahlreiche Freunde, Bewunderer, Delegierte von Motosportvereinen und politische Persönlichkeiten. Péron, der Bürgermeister von Boulogne, hielt eine bewegende Rede, ebenso die Präsidenten der Automoblclubs du Nord und von Belgien.
Die Beerdigung fand am Sonntag, dem 25. September, in Agnona Sesia statt – dem heutigen Agnona, einem Ortsteil des Borgosesia in der Provinz Vercelli.
Bei der Nachricht vom Tod Giuppones wurde sofort für den Bau einer Gedenkstele an der Unglücksstelle gesammelt; innerhalb kurzer Zeit kam die notwendige Summe von mehreren tausend Franc zusammen. U.a. mit Beiträgen von Goux, Boillot, Peugeot und der Zeitung L’Auto. Das Denkmal wurde am 23. Juni 1911 mit einer Zeremonie eingeweiht. Die Stele ist ein Werk des Bildhauers Loiseau. Giuppones Vater war anwesend und dankte den Organisatoren der Zeremonie.
In der Folge fand alljährlich anlässlich des Automobil-Treffens von Boulogne eine Wallfahrt zum Denkmal von Giuppone statt. Diese Tradition endete erst in den 1930er Jahren mit Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten. In den zwanziger Jahren wurde das Gedenken auf Georges Boillot, Giuppones im Krieg gefallener Mannschaftskamerad, und Matthys, der 1925 auf der Rennstrecke von Boulogne starb, erweitert. Glücklicherweise hat das Denkmal den Krieg überlebt und kann unter den Koordinaten 50.680967, 1.769416 besichtigt werden.
Quelle: Seite “Viva Giuppone” – leider nur auf italienisch verfügbar.
Ich darf mich bei Herrn Davide Grappolo für die Erlaubnis, die Artikel und Fotos zu übernehmen, bedanken.