Quelle: https://klassiker-runde-wetterau.com/
Autor: Michael Schlenger (Mitglied des Registers)
Das elsässische Straßburg ist ein steingewordenes Symbol für das über Jahrhunderte konfliktreiche, aber auch fruchtbare Nebeneinander Frankreichs und Deutschlands. An der Nahtstelle zwischen zwei Nationen und Kulturen befindlich wären die Elsässer mit einem Autonomiestatus wohl am besten gefahren. Leider wurden und werden die Bürger aber nicht gefragt, wenn es um Fragen ihrer Identität geht.
So wurde das zuvor zum Deutschen Reich gehörende Straßburg nach dem 1. Weltkrieg ohne Volksbefragung Frankreich zugeschlagen. Nach der Niederlage der Franzosen gegen Deutschland 1940 wurde die einst Freie Reichsstadt dann Teil des Dritten Reichs. 1945 schlug das Pendel wieder in die andere Richtung – seither gehört Straßburg zu Frankreich.
Eines der bedeutendsten Gebäude der Stadt, das auf zahllose solcher Grenzverschiebungen zurückschauen kann und auch die Bombardierung der Altstadt durch die Alliierten 1944 überstanden hat, ist auf folgendem Originalfoto zu sehen:
Die Ansicht zeigt das Kammerzellhaus, dessen steinernes Untergeschoss aus dem 15. Jh. stammt und dessen reich geschmückter Fachwerkaufbau auf das 16. Jh. zurückgeht. Das eindrucksvolle Gebäude steht direkt am Münsterplatz mit der gotischen Kathedrale.
Die Situation hat sich seit Entstehung unseres Fotos nicht wesentlich geändert, nur wird man heute keine Autos mehr an dieser Stelle mehr sehen. Dabei sind die auf der Aufnahme abgebildeten Fahrzeuge selbst von großem Reiz und würden auch heute eher als Zierde denn als Plage in einer historischen Altstadt wahrgenommen.
So scheint das auch der Fotograf gesehen zu haben, als er einen zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits älteren Peugeot in das Bild integriert hat. Der Wagen mit der typisch französischen schlanken Silhouette ist schnell als Typ 201 identifiziert.
Das in seiner ersten Ausführung bereits 1929 vorgestellte Modell trug als erstes der Marke Peugeot eine dreistellige Typbezeichnung mit „0“ in der Mitte. Sie ist auch im Wappen zu sehen, das am Kühlergrill angebracht ist.
Neuartig war zudem die vordere Einzelradaufhängung (ab 1931), während der 4-Zylinder-Motor mit zunächst 1100, später 1300 bzw. 1500ccm (23 bis 35 PS) konventioneller Bauart war. Ab 1933 wurde die Karosserie „windschnittiger“ gestaltet: Der Kühlergrill wurde geneigt und das Heck erhielt fließendere Formen.
Eine solche modernisierte Ausführung des 201 von etwa Mitte der 1930er Jahre ist auf unserem Foto zu sehen. Typisch dafür ist auch der geschwungene Verlauf der Vorderstoßstange, der bei deutschen Fahrzeugen der Zeit so kaum zu finden ist.
Nach über 140.000 Exemplaren wurde der bewährte 201 vom Nachfolger 202 abgelöst, der ein noch größerer Erfolg werden sollte und bis 1949 gebaut wurde. Wie es der Zufall will, ist auf dem Bild die hintere Seitenpartie eines solchen Peugeot 202 zu erkennen:
Die Radverkleidung mit dem stilisierten Löwenkopf im Art Deco-Stil genügt, um den frühestmöglichen Entstehungszeitpunkt der Aufnahme in die späten 1930er Jahre zu verschieben.
Dass das Bild tatsächlich erst nach dem 2. Weltkrieg entstanden sein kann, ist aus dem Erscheinungsbild der Passanten abzulesen. Zwar entspricht die Kleidung der Damen und der Kinder noch den Verhältnissen vor dem Krieg. Doch die beiden Soldaten, die uns den Rücken zukehren und Brotlaibe in der linken Hand tragen, verweisen auf die späten 1940er Jahre:
Es handelt sich um Soldaten der neugegründeten französischen Armee, deren Uniformen britischen Vorbildern folgt, sich aber durch die großen Barette von diesen unterscheidet.
Übrigens ist auf diesem Bildausschnitt ein weiterer französischer Vorkriegswagen zu erkennen, ein Citroen Traction Avant („Gangsterlimousine“), der auf dem Ersatzrad oben das typische Nationalitätskennzeichen trägt – ein silbernes „F“ auf schwarzem Grund.
Dieses Foto kündet somit unfreiwillig gleich auf mehreren Ebenen von der neuerlichen französischen Verwaltungshoheit, die sich in den Jahrhunderten zuvor als ebenso fragwürdig wie die deutsche erwiesen hatte.
Immerhin scheint es heute, als seien die endlosen Streitigkeiten um das Elsass, die auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wurden, beigelegt. Wer heute – am besten mit einem klassischen Automobil – die historisch, landschaftlich und kulinarisch so reizvolle elsässische Region bereist, kann dies endlich unbeschwert genießen.