Quelle: https://klassiker-runde-wetterau.com/
Autor: Michael Schlenger (Mitglied des Registers)
Wenn man sich mit Vorkriegsautos auf alten Fotos befasst, stößt man auf eine umwerfende Vielfalt an Marken, Typen und Ausführungen, je weiter zurück man sich in die Vergangenheit bewegt. In der Frühzeit des Automobils – also vor dem 1. Weltkrieg – rangen in Europa und den USA mehrere tausend Konstrukteure und Firmen mehr oder minder professionell um den Fortschritt.
Dieser heute unvorstellbare Wettbewerb um die beste Lösung spiegelt sich auch in meinem Fotofundus wider. Hunderte von Aufnahmen darin zeigen – häufig gestochen scharf abgebildet – Automobile, die ich bislang nicht identifizieren konnte.
Doch immer wieder kommt es vor, dass ich quasi im Vorübergehen ein Fotorätsel lösen kann, auf das ich bislang keine besonderen Mühen verwendet hatte, da die Sache aussichtslos erschien.
Heute möchte ich ein schönes Beispiel dafür vorstellen:
Dieses hervorragende Foto ist im Jahr 1909 als Postkarte verschickt worden. Damals konnte man solche Privataufnahmen ohne weiteres vom Fotografen als Abzug im Ansichtskartenformat bekommen. Das ging zwar nicht auf Knopfdruck – oder Mausklick – wie heute, aber auf Bestellung.
Die Idee der individualisierten Grußkarte ist also ein alter Hut und mit ein, zwei Tagen Postlaufzeit war man vor über 100 Jahren nicht wesentlich langsamer als im 21. Jh.
Auf den ersten Blick haben wir es mit einem x-beliebigen Doppel-Phaeton aus der Zeit vor 1910 zu tun, also einem offenen Tourenwagen mit zwei Sitzreihen, der nur über ein leichtes Verdeck verfügte.
Auch ein näherer Blick auf die Frontpartie gibt dem Betrachter zunächst keinen Hinweis auf den Hersteller:
Diese Aufnahmen ganz früher Automobile wollen mit dem Blick des Archäologen betrachtet werden, der in kleinen Details Hinweise auf Herkunft und/oder Datierung zu erkennen vermag.
Halten wir auf dieser Ausschnittsvergrößerung folgende Feinheiten fest:
- die sehr kurze Motorhaube stößt übergangslos im rechten Winkel auf die Schottwand zum Fahrerraum hin
- oberhalb der seitlichen Luftschlitze ist eine aufgesetzte Griffmulde zu erkennen, mit der der Haubenflügel angehoben werden kann
- zwei Luftschlitze befinden sich hinter dieser Mulde, zwei darunter und vermutlich zwei davor, was insgesamt mindestens sechs Entlüftungsschlitze ergibt
- an der Schottwand sind zwei petroleumbetriebene Leuchten angebracht, die als Positionslampen dienten; der Lampenkörper ist konisch gestaltet
- der Vorderkotflügel ist annähernd als Viertelellipse ausgeführt, folgt also nur näherungsweise der Radform
- hinter der Schottwand befindet sich ein im Winkel von 45 Grad schrägstehendes Blech, durch das die Pedalen und die Lenksäule geführt sind
Für sich genommen liefern diese Details noch keinen eindeutigen Hinweis auf den Hersteller oder das genaue Modell dieses Fahrzeugs.
Doch in Kombination mit zwei weiteren Elementen auf der folgenden Ausschnittsvergrößerung war letztlich eine eindeutige Identifikation möglich:
Ins Auge fällt hier zunächst der oben abgerundete Kasten, hinter dem sich die vordere Aufhängung der hinteren Blattfeder befindet.
Man erkennt darauf schemenhaft ein Lochmuster, in dem sich eine mittige Aussparung befindet. Es handelte sich um ein Schutzblech auf dem als Stufe fungierenden Kasten, der den Einstieg im Heckabteil erleichterte.
Das allein würde schon die Ansprache als Fahrzeug der Marke Lion-Peugeot ermöglichen. Der Schriftzug der Marke war in der horizontalen Fläche des Lochblechs auf erwähntem Kasten erhaben ausgeführt.
Ein anderes, unscheinbares Detail liefert ebenfalls ein Indiz für den Wagentyp, um den es sich handelt. So konventionell der Aufbau als Doppel-Phaeton auch ist, so individuell fällt die Gestaltung des oberen Abschlusses der hinteren Tür aus.
Diese endete nämlich nicht in einer simplen Horizontalen , sondern wies am hinteren Ende einen kleinen Aufwärtsschwung auf, den die parallel dazu verlaufende Zierlinie in der Fläche darunter präzise nachvollzieht.
Alles das findet sich genau so auf einer Abbildung in Wolfgang Schmarbecks deutschem Standardwerk „Alle Peugeot-Automobile 1889-1980“ wieder.
Der Titel lässt bereits erkennen, dass das Buch 40 Jahre alt ist, doch seither hat sich im deutschen Sprachraum niemand mehr zu einer vergleichbaren Darstellung früher Peugeots aufgerafft.
Überhaupt scheinen die Kräfte der deutschen Automobilhistoriker nach einer hochproduktiven Phase seit den 1990er Jahren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – erlahmt zu sein, was Vorkriegsfahrzeuge angeht.
Wie auch immer: Auf Seite 94 der 1. Auflage des Schmarbeck’schen Peugeot-Werks von 1980 findet sich genau das Auto wieder wie auf dem heute vorgestellten Originalfoto.
Demnach haben wir es mit einem 9 PS-Einzylinder des Typs VC2 der Marke Lion-Peugeot zu tun, der 1909/10 gebaut wurde, angeblich in knapp 1.200 Exemplaren.
Je nach Hinterradübersetzung ermöglichte das 1 Liter-Aggregat eine Höchstgeschwindigkeit von bis zu 45 km/h. Mangels Frontscheibe war das genug, um den Insassen den Wind ordentlich durch die Haare wehen zu lassen.
Kein Wunder, dass sich die junge Dame am Lenkrad vor der Ausfahrt ein schützendes Tuch über den feschen Hut und die Haarpracht gezogen hatte, um nicht völlig zerzaust am Ziel anzugelangen:
Ob unser Fotomodell den Wagen auch tatsächlich selbst bewegte, wissen wir nicht. Sehr wahrscheinlich ist es nicht, aber auch nicht ganz ausgeschlossen.
Bereits vor dem 1. Weltkrieg schickten sich die ersten unerschrockenen Damen an, die noch in vielerlei Hinsicht kapriziösen Verbrenner-Wagen zu bändigen, während die bis dato stark verbreiteten und einfach zu bedienenden Elektroautos ohnehin gern auch von Frauen aus begütertem Haus gesteuert wurden.
Damit wäre ich fast am Ende des heutigen Automobil-Porträts, das uns 110 Jahre in die Vergangenheit zurücktransportiert, als noch offen war, wer das Rennen machen würde: Elektroautos, Verbrenner oder Dampfwagen.
Doch halt: Was hatte es eigentlich mit der ominösen Marke Lion-Peugeot auf sich?
Nun, dabei handelte es sich um eine von der 1896 gegründeten Firma Automobiles Peugeot formell unabhängige Marke, die zwischen 1906 und 1916 in Beaulieu bei Valentigney im Departement Doubs eigenständige Kleinwagen fertigte, die unterhalb der in Audincourt und Lille gebauten größeren Peugeots angesiedelt waren.
In Beaulieu wurden übrigens auch die Fahrräder und Motorräder von Peugeot gefertigt. Außerdem entstanden dort als letzte Automobile von 1913-16 die als „Bébé“ vermarkteten Kleinwagen. Für deren Konstruktion zeichnete der junge Ettore Bugatti verantwortlich, der zuvor bei Deutz in Köln beschäftigt war und ab 1910 als selbständiger Ingenieur im elsässischen Molsheim wirkte – doch das ist eine andere Geschichte…