Der Gaswagen von Jean Joseph Etienne Lenoir aus dem Jahr 1863

Quelle: “Zwischengas” + Archiv Automobil-Revue

Wer – wie in Deutschland gern behauptet – davon ausgeht, daß die moderne Fortbewegung mittels “Automobil” erst mit Daimler und Benz beginnt, liegt nur dann richtig, wenn er hierunter lediglich Fahrzeuge mit Otto-Motoren zählt. Dann wären aber z.B. aktuelle E-Mobile auch keine “Automobile” in diesem Sinne.

Schauen wir daher einmal etwas weiter in der Geschichte zurück:

Das erste bekannte selbstfahrende Landfahrzeug mit Motor und ohne Schinenbindung – somit Automobil im weiteren Sinne – war der “Fadier a Vapeur” des Nicolas Cugnot aus dem Jahr 1770. Einen gesonderten Arikel dazu finden Sie hier.
Weitere Dampffahrzeuge folgten und etwa 1850 wurde der öffentliche Nahverkehr in London mittels einer Flotte von über 200 Dampfbussen sichergestellt.

Die mit der Wende zum 19. Jahrhundert beginnende Benutzung von Gas für Beleuchtungszwecke hatte zur Folge, daß verschiedentlich Ideen entstanden, Gas anstelle von Dampf als Energiemedium zu verwenden. In Frankreich hatte vor allem Philippe Lebon wichtige Anregungen in dieser Richtung vermittelt und 1801 sogar ein Patent auf einen Gas-Motor erhalten, der indes nicht praktisch verwirklicht wurde.

Der Lenoir-Gaswagen von 1863
Der Lenoir-Gaswagen von 1863

Es dauerte bis 1860, als der 1822 im belgischen Mussy la Ville geborene Jean Joseph Etienne Lenoir einen moderne Gasmotor entwickelte, in dem sich gleichsam eine Kristallisation aller vorausgegangener und zeitgenössischer erfinderischer Ideen, Bemühungen und Spekulationen aus dem europäischen Raum, vor allem aus England, Frankreich, Italien und der Schweiz vollzog. Mit dem Lenoir-Motor gelang es erstmals, einen betriebssicheren Verbrennungsmotor zu bauen und sogar auf industrieller Grundlage herzustellen. Für seine Produktion wurde die Kommandit-Gesellschaft Gautier & Cie. mit einem Gesellschaftskapital von 2 Millionen Frs. gegründet, wie man dem Firmenprospekt entnehmen kann.
Das Unternehmen stellte etwa 300 bis 400 Motoren her, vorwiegend in Größen von 0,5 bis 3 PS, vereinzelt bis 8 PS. Der 1-PS-Motor hatte einen Hubraum von 6, der 2-PS-Motor einen solchen von 9 Litern. Während enthusiastische Lenoir-Anhänger, den Gasmotor als „Lebensimpuls unserer Industrie“ betrachteten, gab es auf der anderen Seite Einwände, daß „der Gasmotor sehr heiß werde, eine Menge Wasser zur Kühlung benötige und reichlich geölt werden müsse. Der Lenoir-Motor habe wohl keine Heizung, dafür aber um so mehr eine Schmierung nötig“.

Obwohl Lenoir selbst in erster Linie an ortsfeste gewerbliche Motoren gedacht und dies auch verwirklicht hat, so zeigt sich doch schon 1860 die Absicht, auch ein Straßenfahrzeug damit anzutreiben. Die Zeitschrift „Monde Illustré“ brachte bereits am 16. Juni 1860 eine Zeichnung einer „Voiture, mue par une machine du Systeme Lenoir“, an dessen Verwirklichung dem Text nach ernste Hoffnungen geknüpft waren.

Der Lenoir-Wagen
Der Lenoir-Wagen

Einer späteren Notiz zufolge, die von Lenoir selbst stammt, ist es erst 1863 (damit aber immerhin 23 Jahre vor der berühmten Fahrt von Bertha Benz) zu einer Versuchsfahrt gekommen, womit die Nachrichten über das weitere Schicksal des Lenoir-Wagens enden.
Lenoir schreibt: „Ich machte im Jahr 1863 einen automobilen Wagen, mit dem wir im Monat September nach Joinville-le-Pont fuhren; wir brauchten eine und eine halbe Stunde für die Hinfahrt und ebenso viel für die Rückfahrt (nach Bonneville eine Gesamtstrecke von 18 km). Der Wagen war schwer, der Motor von einer und einer halben Pferdekraft machte 100 Umdrehungen in der Minute bei einem ziemlich schweren Schwungrad. Ich war von den 700 oder 800 Touren, welche die kleinen Motoren heute machen, weit entfernt.“

Abgesehen vom Bau seines Motors, durch den Lenoir berühmt wurde, beschäftigte er sich mit zahlreichen Erfindungen. Während des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 nahm er die Staatsbürgerschaft seiner Wahlheimat an. 1881 wurde er mit dem Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet, aber nicht etwa wegen des Gasmotors, sondern wegen seiner Arbeiten auf dem Gebiete der Telegrafentechnik. In seinen alten Tagen bezog er eine kleine Rente und lebte fast verarmt in ländlicher Zurückgezogenheit in La Varenne, wo er 1900 starb.