Egotrip 1912: Im Peugeot L76 auf den Mont Ventoux

Quelle: https://klassiker-runde-wetterau.com/
Autor: Michael Schlenger (Mitglied des Registers)

Weit zurück in die Vergangenheit des alten Europa führt mich immer wieder mein Blog für Vorkriegswagen. Heute geht es nicht nur in die Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg, sondern in gewisser Weise noch viel weiter in die Historie – zu einem für die europäische Geistesgeschichte bedeutenden Ort.

Die Rede ist vom Mont Ventoux – einem über 1.900 Meter hohen Berg in der französischen Provence nordöstlich von Avignon. Radsportbegeisterte Zeitgenossen werden damit vor allem eine der härtesten Etappen der Tour de France verbinden. Lange bevor der Anstieg mit einer Steigung von mehr als 8 % ab den 1950er Jahren in die Tour de France einbezogen wurde, war der Mont Ventoux jedoch bereits Gegenstand ganz anderer sportlicher Aktivitäten.

Im Jahr 1900 fuhren erstmals Automobile der damals führenden Marke DeDion-Bouton auf den Gipfel. Sie benötigten seinerzeit noch über zwei Stunden dafür. Nur 12 Jahre später entstand die folgende Aufnahme, die ahnen lässt, welche rasanten Fortschritte der Automobilbau unterdessen gemacht hatte:

Rennen auf den Mont Ventoux

Dieses Dokument wurde in einer deutschen Illustrierten ( eine mögliche, aber nicht gesicherte Quelle ist „Sport im Bild“) im Jahr 1912 abgedruckt.

Bevor ich auf das Auto und seinen Fahrer eingehe, unternehme ich noch einen auf den ersten Blick abwegigen Exkurs ins Jahr 1336:
Damals unternahm schon einmal jemand einen kühnen Aufstieg auf den Mont Ventoux – der italienische Gelehrte und Dichter Francesco Petrarca, der zu dieser Zeit in Avignon lebte.

In einem Brief an einen Freund in Italien schrieb er im ersten Satz:

Altissimum regionis huius montem, quem non immerito Ventosum vocant, hodierno die, sola videndi insignem loci altitudinem cupiditate ductus, ascendi.

Das lässt sich mit solidem Schullatein wie folgt übersetzen:

Heute bestieg ich den höchsten Berg dieser Region, den man nicht ohne Grund „den Windigen“ nennt, allein aus dem Verlangen heraus, die markante Höhe mit eigenen Augen zu erblicken.

Die reine Abenteuerlust und Neugier als Motiv für eine derartige Anstrengung, die Petrarca in seinem Brief dann ausführlich schildert, macht die Bedeutung seiner Unternehmung aus. Ohne Zwang und Zweck sich selbst an der Natur zu messen, sie sinnlich erfahren zu wollen – etwas derartiges zu tun, schlicht weil man es kann, das ist bis in die Moderne ein wesentliches Element europäischen Selbstverständnisses.

Eine von vielen Ausprägungen ist der Rennsport, bei dem das körperliche Vermögen durch eigens dafür ersonnene Technologie erweitert und gesteigert wird – eine genuin europäische Erfindung, die über die Nutzung natürlicher Hilfsmittel wie beispielsweise des Pferdes hinausgeht.
Wenngleich Petrarca vor fast 700 Jahren noch keine spezielle Ausrüstung bei der Besteigung des Mont Ventoux nutzte, gilt er aufgrund seiner für die damalige Zeit neuen, rein „sportlichen“ Motivation den Freunden des Bergsteigens als Gründervater.

Nun aber zurück ins Jahr 1912, als der französische Rennfahrer Georges Boillot mit seinem Wagen des Typs Peugeot L76 den Mont Ventoux engagiert anging:

Peugeot L76

Man muss nicht nur die Souveränität bewundern, mit der Boillot hier den fast 150 PS starken Peugeot auf einer Schotterpiste entlang der Ideallinie um die Kurve treibt.

Man darf auch dem Fotografen Anerkennung zollen, der mit einer der schweren und trägen Plattenkameras von einst den vorwärtsstürmenden Wagen so festzuhalten vermochte, dass er förmlich stillzustehen scheint. Zudem fällt die hervorragende Druckqualität ins Auge – immerhin handelt es sich um einen stark vergrößerten Ausschnitt aus einer fast 110 Jahre alten Illustrierten.

Das Meisterstück ist freilich das Auto selbst – damals einer der modernsten Sportwagen der Welt. Sieht man von den fehlenden Vorderradbremsen ab, könnte dies auch ein Rennwagen der frühen 1920er Jahre sein.

Hier hatte Peugeot alle Register gezogen: Der Typ L76 besaß einen 7,6 Liter-Vierzylinder, der als erster Motor überhaupt je zwei Ventile für Ein- und Auslass pro Brennraum besaß, die von zwei obenliegenden Nockenwellen gesteuert wurden. In Verbindung mit halbkugeligem Brennraum und zentral platzierter Zündkerze ist dieses Konzept selbst nach über 100 Jahren noch aktuell.

Konsequenter Leichtbau ergänzte das hochdrehende Aggregat des Peugeot L76 perfekt – 190 Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit waren damit erreichbar. Niemand würde es heute mehr wagen, einen solchen Boliden auszufahren und dabei lediglich ein Barett wie Boillot oder eine Ballonmütze wie der Beifahrer zu tragen.

Peugeot L76 mit Fahrer Boillot

Diese Männer taten aber genau das, weil sie es so wollten. Sie hätten ja auch zuhausebleiben können oder – wie einst Francesco Petrarca – den Mont Ventoux vom Morgengrauen bis zur Dämmerung zu Fuß erwandern können. Das tat ihrem inneren Drang jedoch nicht genüge.

Das Foto hält letztlich einen Moment fest, der für die Moderne so typisch ist wie einst Petrarcas Aufbruch zum Gipfel des Mont Ventoux.

Keine Notwendigkeit zwang diese Männer, sich mit einem derartigen Sportgerät an den Herausforderungen der Bergstrecke zu erproben. Die einzige Belohnung für das Eingehen der Anstrengung und der Risiken, die auf sie warteten, war die siegreiche Ankunft und das kurzlebige Gefühl, etwas bis dato Unerreichtes geschafft zu haben.

Wie einst bei Petrarcas Bergbesteigung und wie noch heute bei der Tour de France geht es dabei auf den ersten Blick um nichts Greifbares. Doch hat die zugrundeliegende Mentalität, das Anstrengende und Riskante nicht zu scheuen, Herausforderungen und Grenzerfahrungen zu suchen, ausgehend von Europa den Boden für die technische Zivilisation geschaffen, die heute weltweit vorherrscht und einen bis dato unerreichten Wohlstand ermöglicht.

Wie rasch der Rausch der Geschwindigkeit vorbei sein kann, den so viele im frühen 20. Jahrhundert suchten, zeigt letztlich das Schicksal von Georges Boillot:

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs war er anfänglich Fahrer des französischen Generals Joseph Joffre – eine Position, die ihm den Einsatz an der Front ersparte. Doch fehlte ihm die Herausforderung und Boillot ließ sich zum Piloten umschulen.

Im April 1916 holte ihn, dem bis dahin alles gelungen war, das Schicksal ein – er wurde während der Kämpfe um Verdun bei Bar-le-Duc abgeschossen und starb kurz darauf an seinen Verletzungen…